Das erste Mal, wo ich den Begriff Urvertrauen verwendet sah, war in einer Beschreibung der Dichterin Hilde Domin über ihre Kindheit: „Irgendwann war ich zuhause, und auch gut zuhause. Davon lebe ich das Leben lang. Das war in Köln, in der Riehler Strasse. Dort haben mich meine Eltern mit dem Vertrauen versorgt, dem Urvertrauen, das unzerstörbar scheint und aus dem ich die Kraft des „Dennoch“ nehme.“
Später fand ich heraus, was ich vermutet hatte, dass das Wort schon von anderen, vor allem Psychologen, genutzt worden war, ehe Domin es zur Anwendung brachte. Heute wird es in Magazinen, Lexika und Websites viel verwendet. Rüdiger Posth gab vor einigen Jahren ein praxisbezogenes Buch heraus, Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen, in dem er die Sorge der Eltern in der Säuglingsphase als entscheidend für das emotionale und soziale Wohlbefinden des Kindes hervorhebt.
Domin folgend, ist zu Hause sein, was auch gut zu Hause sein heisst, die Quelle des Urvertrauens. Zu Hause sein deutet auf Zugehörigkeit hin oder eingehaust zu sein, wie Hans-Georg Gadamer, der Domin „die Dichterin der Rückehr“ nannte, es einmal formulierte. Urvertrauen liegt aber nicht wie etwas schon gegebenes vor, sondern es wird gegeben. Domin spricht von dem Versorgen ihrer Eltern, die ihr mit dem besonderen Vertrauen ausrüstet, das schwerlich verlorengeht, und wovon sie das Leben lang lebt.
Das Urvertrauen ist wie eine Quelle, aus der die Dichterin Lebenskraft nehmen kann. Ur– klingt nach etwas, das tiefe Wurzeln hat, und das durch die Zeit Saft und Kraft ansammelt. Und so ist es: Urvertrauen wird von einer Familie zur nächsten weitergegeben und ist fast ein Teil des „Erbguts“. Das gute Schicksal, sagten die alten Griechen, eudaimonia, worin das Dämonische mitklingt, das sich auch in etwas übles verwandeln kann.
Niemand bestimmt den genealogischen Kontext, in den er oder sie hineingeboren wird. Es wird gegeben, und beeinflusst auf Gedeih und Verderb jedes menschlichen Lebens. Anstatt empfangen zu werden und in Urvertrauen gedeihen, kann ein Säugling oder Kind verlassen werden, und Unvertrauen ausgesetzt werden. Was passiert, wenn Urvertrauen durch Unvertrauen ersetzt wird? Wenn Urvertrauen Lebenskraft ist, ist Urvertrauensverlust dann die Grundlage für Unvertrauen am Leben? Kann Urvertrauensverlust jemanden ins Verderben stürzen, oder dazu führen, dass jemand Selbstmord begeht? Ist es möglich, Urvertrauen wieder zu gewinnen, wenn es verloren gegangen ist?
Die hingeworfene Bemerkung von Domin, dass das Urvertrauen „unzerstörbar scheint“, deutet auf das Gewaltige dieser Kraft hin, die so aussieht oder gemerkt wird, als ob sie nie zum Grunde gehen könnte. Das ist aber nur scheinbar so, möchte Domin sagen. Damit sind wir eingeladen nachzudenken, wie Urvertrauen verloren gehen kann.
Urvertrauen und Unvertrauen liegen sprachlich nicht weit voneinander. Vielleicht hätte jemand am Anfang Unvertrauen anstatt Urvertrauen gelesen und hätte wahrscheinlich damit eine „Fehlleistung“ geleistet, wie Sigmund Freud das nannte, wenn jemand beim Verlesen von einer unbewussten Neigung oder Intention gesteuert ist. Es war auch Freud, der uns daran erinnerte, dass das Heimliche das Unheimliche birgt. Im Heim, in der Geborgenheit des Zuhauseseins, kann das Unheimliche statt finden, z.B wenn jemand entdeckt, dass seine Eltern, die er glaubt zu kennen, nicht seine wirkliche Eltern sind, oder noch dramatischer, wie wenn Ödipus, der seine Eltern nicht von Anfang (=Geburt) kannte, zu spät erkennt, wer sie wirklich waren.
Das Urvertrauen gründet sich auf das gut geborgenes Zuhauseseins. Wenn dieser Grund aber zerstörbar ist, wie steht es dann mit dem Urvertrauen? Für Domin bleibt das Urvertrauen noch da, aber als zerstörbar. Eigentlich sollte nichts das Urvertrauen Domins stören können, wenn sie wirklich damit versorgt wäre, und davon ihr Leben lang leben könnte. So einfach sind aber weder das Leben noch das Urvertrauen, das von den Eltern nicht nur einmal gegeben wird, sondern zeitlang. Was passiert, wenn sie nicht mehr da sind?
Domin fiel in eine tiefe Depression, wenn ihre Mutter starb, während sie im Exil lebte, in der Dominikanischen Republik, von der sie später ihren Dictername nahm. Der Grund unter ihre Füsse wurde nicht völlig weggenommen, aber sie brauchte ihn wieder zu suchen – als Dichterin, die weit weg von ihrer Heimat lebte, und sie beschreibt später diese Zeit als eine Art „zweite Geburt“. Sie kehrt bald nach dem Tod ihrer Mutter nach Deutschland zurück, und fängt an den Grund auf Deutsch zu suchen:
Meine Hand/greift nach einem Halt, schreibt sie im unvergesslichen Gedicht „Nur eine Rose als Stütze“, das von einem luftigen und leeren Zuhausesein redet. Das lyrische Ich will wieder den Kontakt mit der Erde aufnehmen, den Sand unter den kleinen Hufen spüren, aber die Suche nach einem festen Grund findet nur eine Rose als Stütze. Der Boden, den die Hand des lyrischen Ichs sucht, ergibt nicht eine sichere Grundlage für das Urvertrauen, sondern ist schmerzvoll zweideutig und erinnert an Endlichkeit.
In „Ziehende Landschaft“ schliesst Domin mit dem Grab/ unserer Mutter ab, der das wurzelnde Zuhausesein – und wir zuhause sind/ wo wir zuhause sind – unterbricht, und in Erinnerung ruft, dass es keinen direkten Zugang zum Urvertrauen mehr gibt, wenn es das jemals gegeben hätte; bei dem Sarg/ der Mutter heisst es in „Fremder“, das wieder den Grundgegensatz in Domins Lyrik hervorruft zwischen Luft, Wind, Vogel und Erde, Baum, Haus. Nirgendwo kann das Ich sich entspannend niederlassen, sondern hält sich schwebend und unruhig in einem von dem zwei Reichen auf. Dennoch verliert das lyrische Ich nicht die Hoffnung, weil die poetische Suche sinnvoll ist, auch wenn sie das Gesuchte nicht findet.
Zurück bleibt das Wort, das nicht völlig zutrifft, aber das den Weg bereitet, die Gegensätze im Leben auszuhalten. Der Boden ist nicht mehr fest, Der Boden/ bewegt sich unter Dir („Fesselballon“), die Landschaft zieht vorbei und dennoch kann der Mensch, in mitten des unaufhörbaren Zuges der Zeit, vertrauensvoll bleiben, dass Gleichgewicht durch Gegengewicht vorstellbar und praktikabel ist:
Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
(„Ziehende Landschaft“)