Freunde in der spätmodernen Welt wohnen selten zusammen. Wenn sie ausnahmsweise mit einander leben, hat jeder Freund in der Regel ihren eigenen Raum, zu dem er oder sie sich zurückziehen kann. Eine gewisse Diskretion und Respekt gehört zur Freundschaft, die sich in Liebe verwandelt in dem Moment, wo die Freunde sich so sehr annähern, dass es keinen Abstand zwischen ihnen mehr gibt, und sie werden, wie Aristoteles behauptet, zwei Seele in einem Körper.
Aber vielleicht lassen Freundschaft und Liebe sich nicht so klar unterscheiden. „Die Griechen, die sehr gut wussten“, Nietzsche folgend, „was ein Freund sei“, nutzen dasselbe Wort für Freundschaft und Liebe, philia, die auch Verwandten mit einbegreifen. Nietzsche unterscheidet zwischen beiden in einem seiner nachgelassenen Fragmenten: „Es setzt die Liebe tief unter die Freundschaft, dass sie ausschliesslichen Besitz verlangt, während einer mehrere gute Freunde haben kann, und diese Freunde unter sich einander wieder Freund werden.“
Wieder ist es aber die Frage, ob Freundschaft völlig unabhängig und sogar höher als die Liebe da ist. Freunde können sich wohl auch lieben, obwohl es in einer anderen Weise ist, als die Verliebten, die nicht ohne einander leben können, und die leiden, wenn sie nicht zusammen sind. Gute Freunde pflegen nicht zu leiden, wenn sie weg von einander sind, sondern freuen sich darauf, wieder einander zu sehen. Sie schauen nicht einander an, sondern sie sehen einander, idealerweise wie sie wirklich sind.
Platon und Aristoteles sind die ersten, die Freundschaft als einen Weg zum Selbsterkenntnis andeuten. Sie vergleichen den Freund mit einem Spiegel, in dem die Freunde sich selbst sehen und kennen lernen können. Es ist klar, dass der Spiegelmetapher hinkt, als der Freund nicht plausiblerweise zu einem Gegenstand wie einem Spiegel, in dem der Freund sich objektiviert, reduziert werden kann. Dennoch markierken ihre ethischen Reflexionen über der Freundschaft einen Versuch das höchste Ziel des Menschen, Erkenne dich selbst, als erreichbar zu erklären, in Begleitung mit dem Anderen, dem Freund.
Aristoteles behauptet in seinem ersten Freundschaftsbuch des Nikomachischen Ethiks, dass wenn einer auf Reise ist, oder in der Fremde weilt, da erkennt man „wie jeder schon als Mensch dem Menschen nahe steht“. Am Anfang jeder Freundschaft findet das Empfang der Freunde statt, und Aristoteles erinnert mehrmals an dieser „Vorgeschichte“ der Freundschaft, wo die Freunde einander als Gäste aus der Fremden empfangen. Er beschreibt die Freundschaft als „Zufluchtsort“ für diejenige, die in Armut und sonstigem Missgeschick leben, und Freundschaft bleibt aus, „wenn man nicht zuvor den bekannten Scheffel Salz mit einander gegessen hat.“
In der modernen Philosophiegeschichte hat der französisch-jüdische Denker, Emmanuel Lévinas, vor allem den Empfang als der Ursprung und überhaupt als die Öffnung der Ethik hervorgehoben: Die Ethik fängt erst dort an, wo das Ich seine Türe aufschlägt, und angesprochen wird, angeklagt vom Anderen, der um Gastfreiheit bittet. Gegen das Ende seines Hauptwerkes Totalität und Unendlichkeit schreibt Lévinas, dass „das Wesen der Sprache Freundschaft und Gastfreiheit ist“.
Fast unbekannt ist die Ethik der Freundschaft Friedrich Nietzsches, die in seinem Nachlass und seinem frühen Briefwechsel mit Erwin Rohde fragmentarisch formuliert vorliegt: Wenn Nietzsche in einem seiner Briefen an seinen „Schicksalgefährten“ die Beiden „als ächte scholastikoi“ nennt, dann denkt er an eine antik inspirierte Wanderschaft, in welcher die Freunde einander ins Offene und in die Höhe unter der „Sonnenschein der Freundschaft“ begleitet. Nach dem Empfang ist die Begleitung das nächste Moment in einer Ethik der Freundschaft, die erlaubt und den Menschen einlädt, hoch über sich selbst zu wachsen.
Am ende kehren wir zurück zum entscheidenden Moment, das Alpha und Omega in jeder Freundschaft ist, sich kennen zu lernen, sowohl sich selbst als Andere. Hans-Georg Gadamer, der in seinen hermenutischen Arbeiten „an der antiken Freundschaftslehre Mass genommen hat“, drückt das Selbsterkenntnismoment der Freundschaft in einem Text mit dem Titel Freundschaft und Selbsterkenntnis folgendermassen aus: „Durch den Austausch mit unseren Freunden, die unsere Ansichten und Absichten teilen, sie aber auch berichtigen und bestärken können, nähern wir uns dem Göttlichen, und das heisst dem Ideal der Existenz. Wir nähern uns der kontinuierlichen Gegenwart Denn der Freund tritt für uns ein. So wird möglich, was uns sonst als Menschen versagt ist: Gegewart, Wachheit, Selbstpräsenz im Geiste.“